Auf meinem iPhone habe ich als Screensaver ein Bild des Südquerhausfensters aus dem Kölner Dom von Gerhard Richter. Und du?
Mein eigenes Bild.
Also ein Glasbild.
Genau. Das Material Glas — oder Acrylglas — haben wir täglich um uns: als Screens, Tablet-Oberflächen, aber auch in der Architektur. Es ist zugleich alt und traditionsreich, als auch neu. In meinen Bildern ermöglicht es mir, starke visuelle Reize zu entwickeln. Manchmal sind es ästhetische Übertreibungen, manchmal eine besondere Form der Intensität. Ich kann schwer beschreiben, woraus sich ein Bild oder Objekt letztendlich entwickelt.
Gerhard Richter verbaute in Köln über 11.000 Glasquadrate in 72 Farben. Eine davon ist das Orange, das eine Reihe deiner geradezu leuchtenden Glasbilder dominiert. Das Orange ist dabei so stark, dass ich dich frage: Was hat es mit dieser Farbe auf sich?
Orange ist eine sehr ambivalente Farbe. Einerseits ist sie eine Warnfarbe, die Farbe des Katastrophenschutzes, aber in der Psychologie gilt sie als stimmungsaufhellend oder bei den Buddhisten als die Farbe der höchsten Erleuchtung. In dem Film Blade Runner 2049 liegt ein schmutzig-orangener Filter über dem ruinösen Las Vegas und zeigt eine entrückte, kontaminierte Landschaft. Orange hat negative wie positive Bedeutungen. Ich bin fasziniert von seiner Dominanz. Ich schwäche die Farbe nicht ab, sondern verstärke sie. Hier in der Santa Lucia Galerie wird sie noch einmal verstärkt, dadurch dass wir die Wand blau gestrichen haben.
Wie erreichst du diese leuchtende Intensität?
Ich benutze oft Farbfilter im Glas. Also stärker oder schwächer eingefärbte Gläser, je nach Bild. Dadurch muss ich dann gegen diese Tönung anmalen, alle Farben darunter und darauf verstärken und übersteigern. Jedes Bild hat in dieser Serie seine spezifische Tönung — Orange, Blau, Dunkelrot.
Du malst also mit gefiltertem Blick?
Sagen wir mal so: Diese Filter helfen mir, eine bestimmte Atmosphäre zu kreieren, eine Entrücktheit und Transzendenz herzustellen, ähnlich wie bei dem frühen Experimentalfilm Rose Hobart von Joseph Cornell, wo er alles durch einen bläulichen Filter filmte. Mir geht es dabei um Verdichtung, andererseits aber auch um eine fast manieristische Übertreibung. Wir kennen Filter eher aus der Fotografie, etwa aus den sozialen Medien, als aus der Malerei. Durch den Orangefilter bei Blade Runner 2049 bekommen die im zerstörten Las Vegas gedrehten Szenen etwas Post-Apokalyptisches, etwas Unwirklich-Entrücktes. Wenn man nicht ahnte oder wüsste, dass dort eine nukleare Katastrophe stattgefunden hat — man könnte die Szenerie geradezu als schön bezeichnen.
Beobachter der ersten Atombombentests in Nevada sprachen genau davon: Die Explosionen seien das Schönste gewesen, was sie je im Leben gesehen hätten.
Diese große Ambivalenz zwischen Schönheit und Bedrohung, zwischen romantischer Leuchtkraft und totaler Zerstörung interessiert mich. Alles ist ganz Oberfläche und geht zugleich tiefer.
Orange oder kupferfarben ist auch die Droge Magnon, welche die Protagonisten in Leif Randts Roman Planet Magnon zu sich nehmen. Du hast eine Bilderserie explizit Magnon betitelt.
Planet Magnon ist ein großartiger, neuer Zukunftsroman! Nur ein Bild heißt bei mir explizit Magnon, aber weitere Bilder knüpfen daran an. Sie sind parallel beim Lesen des Romans entstanden und ich denke, dass sie also auch mit ihm zu tun haben — allerdings auf einer rein intuitiven Ebene. Es gibt keine direkten Übersetzungen des Textes in Bilder. Der Roman hat mich berührt, und alles, was mich wirklich berührt, beginnt mich zu interessieren. Ich bin überzeugt, dass es dadurch auch in meine Arbeit einfließt. In dem Buch gibt es einen interessanten, oft nur kurz und situativ auftretenden Umgang mit Farbe. Es werden dann ganz beiläufig der „kernblaue Himmel“ oder „Kupferfelsen“ genannt. Es gibt auch den Mond „Pink“. Die Verwendung von Farbe als Stilmittel schafft in dem Buch sofort und mit wenig Aufwand imaginäre Bilder.
Wie stellst du dir Magnon vor?
So ähnlich wie mein Bild aus dem Jahr 2016. Magnon ist eine Substanz, die in Kollektiven genommen wird — aber nicht, um Orgien zu feiern und um sich zu berauschen, sondern im Gegenteil, um durchlässiger zu werden, um dazuzulernen. Es handelt sich um eine horizonterweiternde Substanz, mit der man bessere Gespräche führen kann und größere Erkenntnis erfährt. Man muss für meine Bilder aber nicht den Roman kennen, um sie zu verstehen. Meine Bilder spielen im Kern mit der Idee von schillernder Verführung und der Sehnsucht nach Veränderung, die man auch ohne das Buch wahrnehmen kann.
Du hast mit Blade Runner 2049 und Planet Magnon zwei explizite Beispiele aus der Popkultur genannt, weist aber von dir, dass deine Bilder die genannten Quellen direkt illustrieren.
Ich würde Filme, Romane, Musik oder auch Gespräche nicht als Quellen bezeichnen wollen, sondern vielmehr als Wahlverwandtschaften. Eine Quelle ist ja immer zuerst da — und dann geht es weiter. Es gibt aber auch Fälle, dass ich Jahre, nachdem ich ein Bild gemalt habe, einen Song höre und ihn mit diesem Bild rückwirkend assoziativ verknüpfe. Dieser Prozess ist vielleicht vergleichbar mit dem freien Assoziieren in der Psychoanalyse. Viele meiner Bilder kommen ja aus dem Farbfleck oder sind wie eine Art hingeworfene Schrift. Malerei ist für mich nicht zeitlich linear, sondern sie bewegt sich in mehreren Zeitebenen und -zusammenhängen. Gerade weil ein Bild keine solche Linearität hat, gibt es die Möglichkeit, sich ihm immer neu, mit sprunghaften Ideen und auf verschlungenen Pfaden zu nähern. Mein ideales Publikum tut dies und bildet seine eigenen Wahlverwandtschaften zu den Bildern. Erst kürzlich besuchte mich eine Kunsthistorikerin, die ihren Schwerpunkt auf der Kunst bis zum 17. Jahrhundert hat. Sie hat meine Arbeiten sehr sakral gesehen und mit Andachtsbildern assoziiert. Eine Woche später besuchte mich ein Sammler, der mir wirkungsmächtige Drone-Musik vorspielte, als er meine Bilder im Original sah. Beides ist für mich nachvollziehbar. Mich interessiert das Alte genauso wie das ganz Neue, die Kunst der Gotik ebenso wie der Blade Runner. Und ich kann viele Verbindungen herstellen.
Das spiegelt sich ja in den Verweisen auf für dich relevante Kontexte in diesem Katalog, die von Filmbeispielen über sakrale Kunst bis hin zu bildhaften Strukturen reichen, wie sie in Fotografien von Naturkatastrophen vorkommen.
Wir beide haben ja den NASA-Account auf Instagram abonniert. Deren Fotografien ferner Galaxien gehören auch in den Atlas der Kontexte. Die NASA verstärkt und übersteigert die Farben ihrer Weltraumbilder übrigens ebenfalls sehr oft mit Filtern.
Die NASA-Bilder zeigen die Perspektive auf den endlosen Weltraum. Wenn man mit dem Mikroskop eintaucht in die Mikrowelten der Zellen und Atome, dann bekommen wir Strukturen zu sehen, die den Weltraumbildern nicht unähnlich sind.
An solchen sichtbaren Strukturen aus der Natur wie auch jenen, die erst durch neue Technologie sichtbar gemacht werden, bin ich sehr interessiert. Ob nun ein Sandsturm aufwirbelt oder ein Tornado Wolken und Landschaft aufzusaugen scheint. Am Ende geht es immer um die Frage: Was interessiert mich wirklich? Erst, wenn mich etwas wirklich berührt, kann ich es als Material an mich heranlassen und vielleicht benutzen. Ich glaube, das ist sehr menschlich. Auch du hast dich erst wirklich für meine Arbeit zu interessieren begonnen, nachdem dich ein Bild in meinem Atelier sehr getroffen — also berührt hat.
Ich erinnere mich genau: Das war dein — abermals orangefarbenes — Bild Fire and Ice, und ich konnte meinen Blick nicht abwenden.
Das ist ein nicht-rationaler Vorgang und auch schwer zu versprachlichen. Ich versuche bei der Arbeit immer einen größtmöglichen Jetzt-Moment zu schaffen, um auf diese Emotionen und Interessen zu stoßen. Ich reagiere beispielsweise sehr empfindlich auf die Frage: „Was machst du heute im Atelier?“ Da kann ich regelrecht schlechte Laune bekommen. Ein Teil meines Arbeitsprozesses besteht darin, genau dies vorher nicht zu wissen. Ich suche die Gegenwart des Jetzt im Malprozess – es ermöglicht mir, alle Einflüsse zuzulassen.
Zwischen den von dir genannten Kontexten wie Gotik und Blade Runner liegen Jahrhunderte.
Für mich sind alle Zeiten in die Malerei eingeschrieben, da sie neben der Zeichnung zu den ersten bildproduzierenden Medien der Menschheit gehört. Mit dieser Fülle kann ich nur umgehen, wenn ich möglichst situativ arbeite und von dort aus Zeitsprünge mache.
Deine Zeitsprünge sind nichts anderes als imaginierte Zeitreisen, die dich in die Zukunft und in die Vergangenheit führen. Alexander Kluge hat eine ähnliche Vorstellung von Zeitreisen. Kluge sagt, dass die Welt der Kunst wie eine Kugel sei: Alles zusammen hat eine Kugelgestalt mit der gleichen Schwerkraft wie die Erde, welche die Oberfläche zusammenhält. Alle Künste berühren sich dank dieser Kugelgestalt, und die Künstler merken intuitiv, an welche Strömung der Vergangenheit sie andocken können, wo sie die Kunst oder die Musik neu starten können. Er zieht daraus den Schluss, dass der Bass des Techno beispielsweise anknüpft an die Idee des hypnotischen Basso Ostinato in der Barockmusik.
Dieser Gedanke entspricht mir absolut! Er scheint tatsächlich an das anzuknüpfen, was ich eben versucht habe zu erklären. Intuition ist ein wichtiges Stichwort, der Zufall aber auch. Ich sehe sie mittlerweile als ganz präzise Werkzeuge.
Du bist zuversichtlich, was den Zufall betrifft. Hast du erst einmal eine Art Vokabular für eine Bilderserie gefunden, dann ist auch stets klar, was geht — und was nicht?
Ja, aber diese Klarheit muss ich erst schaffen und es ist eine andere Form der Klarheit, als wir sie im Alltäglichen definieren würden. Dadurch, dass ich viel mit Farbschüttungen arbeite und mit gefundenen Materialien, kann ich das Ergebnis nie bis zum letzten Punkt wirklich kontrollieren und will das auch gar nicht. Aber es gibt doch Themen, die immer wieder auftauchen. Ich denke, vieles, was ich bisher gemacht habe, handelt letztendlich von der bereits erwähnten Koexistenz von Schönheit und Bedrohung: Ein Gewitter ist schön, aber auch bedrohlich. Das Meer steht sinnbildlich für Größe und Freiheit, kann aber auch Entwurzelung und Tod bedeuten, nicht nur bezogen auf die aktuelle, dramatische Situation vieler Geflüchteten, sondern auch auf die Naturgewalten. Liebe ist schön, aber schließt auch immer die Bedrohung des Verlassenwerdens, der Endlichkeit mit ein. Es ist sehr schön, die Chance zu haben, sich von jemandem zu verabschieden, der stirbt, und natürlich ist es gleichzeitig unglaublich traurig und bedrohlich für die eigene Existenz.
Zusammengehalten wird Alexander Kluges Kugel der Künste durch ihre eigene Schwerkraft. Deine Bilder werden zusammengehalten durch die glatte Oberfläche des Glases und den Rahmen.
Der Rahmen ist Teil des Bildes oder Objektes. Er wird im Allgemeinen als Grenze zum Raum wahrgenommen. Ich sehe ihn indes mehr als Fassung, die etwas visuell greifbar macht, was sonst sehr schnell verschwinden würde. In ihrem Inneren haben viele dieser Bilder ja auch oft etwas Flüchtiges. Sie zeigen meist Übergangssituationen, Veränderungsprozesse, nichts Statisches. Ich empfinde ein gerahmtes Bild auch nicht als begrenzt. Es ist ein anderer Ort, inmitten vieler möglicher Orte.
Bei anderen gerahmten Bildern könnte man sagen: Hinter dem Glas liegt das Bild. Du durchbrichst das. Teilweise ist das Glas selbst von innen bemalt, teilweise ist das dahinterliegende Bild durch Farbauftrag fast schon dreidimensional-skulptural. Das Glas wird also zum Teil des Bildes, das damit zur Vitrine, zum Objekt wird, und somit zur Skulptur.
Ja, wenn man sie als Objekte betrachtet, könnte man einige auch als Dioramen oder Vitrinen bezeichnen. Hinter den Gläsern, in den Schichtungen und Spiegelungen, wird aber auch viel Dunkelheit, manchmal Chaos sichtbar. Das Publikum assoziiert sie oft mit Landschaften, die zwischen Dystopie und Utopie schwanken. Diese Serie hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Ich habe mit einem eher dunklen, monochromen Farbraum angefangen, dessen Stimmung mich rückblickend manchmal an Filme von Lars von Trier erinnert. Sie entwickeln sich jetzt in etwas viel Leuchtenderes, von dem ich noch nicht weiß, wo es mich hinführt, und ob es ein Ende dieser Serie geben wird. Zur Zeit sind sie verlockend „shiny“.
Von welchen Filmen Lars von Triers sprichst du?
Insgesamt hat mich Lars von Trier definitiv geprägt, auch die älteren Filme. Von den jüngeren finde ich Melancholia großartig, im wahrsten Sinne des Wortes: In seinem Drama, in seiner flirrenden Aura, in diesem Überwältigungsmodus. Bei Melancholia begeistern mich die phantastischen Bilder, zum Beispiel die zwei Monde über dem Park. Alles vibriert vor Irrsinn und Dekadenz.
Neil Tennant sagt: „Pop ist Oberfläche.“ Deshalb muss Pop strahlen.
Bei Tennant ist das positiv besetzt, wie so oft im Pop. Der Kulturwissenschaftler Byung-Chul Han kritisiert die glänzende, glatte Oberfläche hingegen heftig: „Das Glatte ist die Signatur unserer Gegenwart“ ist der erste Satz seines Buches Die Errettung des Schönen, und er meint das nicht als Auszeichnung. Neulich hatte ich eine Besucherin aus London in meinem Atelier, und obwohl wir uns noch kaum kannten, hat sie sich vor einem der Acrylbilder erst einmal ganz lange die Haare gerichtet — weil es so spiegelt. Sicher hat die spiegelnde, glatte Oberfläche diese narzisstische Anziehungskraft. Das ist mir bewusst und ein Teil des Gedankenraums dieser Bilder.
Wie wichtig ist es für dich, dass du dich im Atelier wegschließen kannst? Welche Bedeutung hat der Atelierraum für dich? Trittst du dann aus der einen Welt heraus und begibst dich in eine andere?
Tatsächlich sind Ruhe und Abgrenzung wichtig für mich. Am besten ist es, im Atelier eine Art Utopia zu kreieren, einen Raum mit größtmöglicher Freiheit. Das ist auch ein Ort, an dem ich keine Verpflichtungen, keine Termine, keine Geldsorgen habe. Und nur sehr gezielt Internet und Telefon benutze. Der ideale Atelierzustand ist einer, wo ich ungestört über mir wesentlich erscheinende, auch existentielle Dinge nachdenken kann. Es ist wichtig für mich, diese Voraussetzungen zu schaffen, um in einen guten Arbeitsprozess zu kommen. Bei der Malerei sind konkrete Ideen für mich eher Bremsen, die können sogar regelrecht Blockaden in mir hervorrufen. Also versuche ich systematisch in einen Zustand hineinzukommen, der ein freies Assoziieren ermöglicht. Dann komme ich auf die Spur und finde fast wie von selbst, was ich brauche. Ich habe in den letzten Jahren aber auch immer wieder Projekte realisiert, bei denen ich das Atelier verlasse und viel konzeptioneller arbeiten musste. Für die Kunsthalle Exnergasse in Wien habe ich 2016 mit zwei Freundinnen und Kolleginnen das Ausstellungskonzept Antenna Futura entworfen und kuratiert, und mit einer befreundeten Autorin aus Amsterdam habe ich an einem Projekt gearbeitet, das Bild, Sprache und Poesie verbindet. Diese Arbeiten katapultieren mich aus dem Atelier Utopia heraus und erfordern viel Kommunikation und den Umgang mit ganz konkreten Lösungen und Ideen. Dagegen widersetzt sich meine Malerei. Für sie muss ich, wie Michael Ende es beschreibt „in eine andere Logik springen“.
In eine Logik der Kindheit?
Mag sein, meine Erinnerung daran ist vage. Jedenfalls ist es eine andere als unsere Alltagslogik, die ja sehr geprägt ist von dem Prinzip Plan und Ausführung. Allerdings spielt meine Kindheit sicher eine große Rolle in Hinblick auf mein starkes Empfinden für diese in meinen Bildern thematisierte Koexistenz von Schönheit und Bedrohung. Ich bin in einer Aussteigerfamilie in der DDR groß geworden. Meine Eltern waren Anthroposophen, die eine Pension an einem See führten, wo wir auch wohnten. Das war absolut nicht konform mit der gängigen Ideologie und gefährlich. Die Grundstimmung meiner Kindheit bewegte sich zwischen Idyll und Gefahr, vielleicht ist das eine Quelle. Meine Mutter war sehr literaturbegeistert und hat uns oft illegal Bücher aus dem Westen besorgt…
Was für illegale Bücher waren das?
Ich war noch Kind, das waren Kinderbücher.
Verbotene Kinderbücher?!
Sagen wir: nicht gern gesehen. Michael Endes Momo war eine Zeitlang tatsächlich verboten. Was seltsam ist, da man es ja klar kapitalismuskritisch lesen kann. Selma Lagerlöf wurde ebenfalls kritisch gesehen, auch Lewis Carroll oder Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf ist immerhin so etwas wie eine gutsituierte Anarchistin, finanziert durch einen Koffer voller Goldstücke – das passte sicher nicht in die vorherrschende Ideologie. Ich musste die Bücher verstecken, wenn bestimmte Leute uns besuchen kamen, und ich durfte bestimmte Sachen in der Schule nicht sagen. Diese Bücher hatten eine Brisanz und waren für mich umso attraktiver. Das hat sicher auch dieses Gefühl in mir verstärkt, dass die Kunst, die Literatur und die Fiktion eine subversive Kraft haben. Sie können eine gesellschaftsrelevante Kraft entwickeln, weil sie sich über einen Ist-Zustand hinwegsetzen.
Wie alt warst du, als 1989 als die Mauer fiel?
Zehn.
Welche Bücher wurden dann nach dem Mauerfall zu deinen Begleitern?
Ich lese sehr viel und es ist schwer etwas besonders hervorzuheben. Zurzeit lese ich Imperium von Christian Kracht. Das Buch erzählt eine Geschichte aus der Reform- und Ökobewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Protagonist, den es wirklich gegeben hat, kauft eine Insel und beschließt, nur noch von Kokosnüssen zu leben. Sowohl die Sprache als auch die Geschichte haben etwas Altmodisch-Manieristisches und zugleich etwas total Zeitgemäßes. Die Geschichte hat mich sicher auch deshalb so berührt, weil sie eben von einer Aussteigerszene erzählt und deren Anliegen jetzt zum Mainstream gehören.
Wundert es dich, dass nicht wenige Betrachter deiner Gemälde in ihnen Abbilder der Apokalypse zu erkennen meinen?
Nein, es gibt ja in vielen ein großes Drama und auch eine Erschütterung.
Man meint in deinen Abstraktionen oft Figuratives zu erkennen. Das Fraktale der Katastrophe wird konkret — und sei es nur im Kopf des Betrachters.
Möglich, wir suchen immer nach einem Sinn und in Bildern immer nach einer Erinnerung — an etwas, das wir kennen und mit dem wir es verknüpfen können.
Jeder Maler steht vor einer Traditionslinie, die in der Höhlenmalerei beginnt, über Goya und Picasso führt und bei Frankenthaler und Lassnig noch lange nicht endet. Wie stehst du als Malerin im Jahr 2018 zu dieser Geschichte, dieser Tradition und dieser Ahnenfolge? Auch wenn die Materialien in deiner Glas-Serie von der traditionellen Leinwandmalerei abweichen, positionierst du dich ja trotzdem gegenüber dieser Tradition.
Ich habe keine Berührungsängste. Es gibt ja verschiedene Herangehensweisen des Bekämpfens, des Wegstoßens und des Zerstörens — aber auch des Umarmens, des Heranlassens und des Aufgreifens. Ich möchte alles benutzen dürfen. Ich sehe noch etliche interessante mögliche Variationen in den von mir begonnenen Serien, so dass hier noch viele Bilder entstehen können. Zunehmend wichtig wird auch die Dimension der Musik — als weiteren Kontext neben dem Film, der Natur und der Literatur.
Wie hat man sich das Immaterielle der Musik in deiner Malerei vorzustellen?
Ausgangspunkt sind hier die Tonspuren bzw. Scores zu ausgewählten Science-Fiction-Filmen, die mich nicht loslassen, sich als Geistermelodien in meinem Kopf festgesetzt haben. Das sind die Filmmusiken etwa von Edward Artemiev zu Solaris von Andrej Tarkowskij, aber auch die Scores von Vangelis und Hans Zimmer, die zu den beiden Blade-Runner-Filmen die Musik geschrieben haben. Fasziniert bin ich von den Soundtracks zu den klassischen Star-Wars-Filmen. Hier hat der Komponist John Williams das Prinzip der Leitmotive bei Richard Wagner abgekupfert und auf seine Protagonisten übertragen — von der imperialen Einschüchterungsmusik im Falle Darth Vaders über die euphorisch- idealistische Musik bei Luke Skywalker bis zur romantischen Märchenmusik bei Prinzessin Leia. Momentan höre ich auch oft den wunderbar sphärischen Soundtrack zu Ghost in the Shell im Atelier, und ich denke, er fließt gerade in neue Arbeiten ein. Fast automatisch bieten sich hier Farb- und Formenwelten an.
Carsten Nicolai aka Alva Noto komponierte sich zu Solaris sogar seinen eigenen elektronischen Score.
Auf alle Fälle ist die Musik ein ganz neues und doch zugleich sehr vertrautes Feld, das mich anzieht. Man kann Musik nicht illustrieren — das finde ich extrem verheißungsvoll. Sie geht direkt in Herz und man braucht zunächst keine Sprache, um sie zu verstehen. Ich kann mir also eine Malerei, die versucht, ihre Emotionalität in Bilder zu übersetzen, sehr gut vorstellen. Die Immaterialität der Musik erlaubt es, situativ und intuitiv zu arbeiten — und das sind zugleich die Grundpfeiler meiner Art zu malen. ~